03.09.2015Faktencheck Flüchtlingspolitik Überall auf der Welt sind Menschen von Krieg, Gewalt, Verfolgung und Hunger bedroht. Viele dieser Menschen suchen in Europa Zuflucht. Aber die Europäische Union versagt angesichts dieser Herausforderungen. Dies jedenfalls behaupten Politikerinnen und Politiker in Deutschland. Stimmt das? Wir haben sechs Behauptungen über die europäische Flüchtlingspolitik gesammelt - und Unklarheiten beleuchtet. Behauptung: "Die EU versagt in der Flüchtlingspolitik." Faktencheck: Eines ist klar: die Europäische Union muss den aktuellen Herausforderungen mit einer gemeinsamen Herangehensweise begegnen. Tenor muss sein: Die Staatengemeinschaft gewährt Schutzbedürftigen Asyl und schafft dafür sichere Orte – in der ganzen Europäischen Union! Finanzstarke Länder sollen mehr Bedürftige aufnehmen, Länder mit geringeren Mitteln weniger – das wäre fair. Es braucht klare Regeln für eine solidarische Verteilung von Schutzbedürftigen in der EU. Darin ist bisher allerdings nicht „die EU“ gescheitert. Die Europäische Kommission hat im Mai Vorschläge für eine zunächst kurzfristige Verteilung von 40 000 Flüchtlingen vorgelegt. Diese unterstützt das Parlament. Auch eine langfristige Lösung für die solidarische Verteilung von Flüchtlingen wird von Parlament und Kommission unterstützt. Die Mitgliedstaaten jedoch scheiterten im Ministerrat bereits an der Einigung auf eine freiwillige Regelung. Ein deutlicher Rückgang der Flüchtlingszahlen ist in den kommenden Jahren nicht zu erwarten. Sich jetzt nicht zu einigen, bedeutet, Elend und Tod von Menschen in Kauf zu nehmen. Behauptung: "Flüchtlinge schaden der Wirtschaft Europas." Faktencheck: Deutschland braucht in den kommenden Jahrzehnten jährlich im Schnitt mehr als eine halbe Million Zuwanderer, wenn es die Zahl der Arbeitskräfte und sein Sozialsystem bis zum Jahr 2050 stabil halten will. Das haben Experten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie der Hochschule in Coburg ermittelt. Laut einer Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zahlte 2012 jeder in Deutschland lebende Ausländer durchschnittlich 3.300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben als er an staatlichen Leistungen erhielt. Insgesamt sorgten die 6,6 Millionen Menschen ohne deutschen Pass so für ein Plus von 22 Milliarden Euro. Wir fordern deshalb, dass die legale Migration in die EU und die Integration von Einwanderern in europäische Bildungssysteme erleichtert wird. Durch eine sichere Einreise und eine unkomplizierte Aufnahme kann das Potential von Einwanderern optimal genutzt werden. Zuwanderung ist eine Chance, die wir gestalten müssen. Behauptung: "Europa lässt Deutschland alleine." Faktencheck: Innerhalb der Europäischen Union nimmt Deutschland in absoluten Zahlen die meisten Flüchtlinge auf, bezogen auf die Einwohnerzahl aber nicht. Hier liegen andere Länder laut Uno-Flüchtlingshilfswerk für das Jahr 2014 deutlich vorne - zum Beispiel Schweden mit etwa 7,8 Asyl-Erstanträgen pro 1.000 Einwohnern oder das kleine Malta, wo drei neue Asylbewerber auf 1000 Einwohner kommen. Aber auch Dänemark (2,5 pro 1.000), Schweiz (2,7 pro 1.000) und Norwegen (2,5 pro 1.000) liegen vor Deutschland. In der Bundesrepublik kamen 2014 rund 2,1 Asylbewerber auf 1.000 Einwohner. Deutschland nimmt verhältnismäßig viele Flüchtlinge auf - andere große europäische Industrienationen wie etwa Frankreich und Großbritannien, aber auch Spanien, Portugal oder Italien leisten deutlich weniger, kleine Staaten wie Schweden oder Griechenland dafür nehmen proportional viel mehr Asylbewerber auf als Deutschland. Ohne einen verbindlichen Verteilungsschlüssel, auf den sich die EU-Mitgliedstaaten einigen müssen, ist eine faire Flüchtlingspolitik also schwer vorstellbar. Auch sind es nicht europäische Länder, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen. Vor allem nicht, wenn man die Wirtschaftskraft einbezieht. Teilt man die Summe der Flüchtlinge und Asylbewerber durch das Pro-Kopf-Einkommen eines Landes, rangiert Deutschland laut Uno-Flüchtlingshilfswerk weltweit nur noch auf Platz 36. Ganz oben stehen Äthiopien, Pakistan und Uganda. Die ersten 30 sind fast ausnahmslos Entwicklungsländer, viele davon gehören zu den ärmsten Staaten der Welt. Betroffen vom Flüchtlingsstrom sind also vor allem Aufnahmeländer, deren finanzielle Mittel deutlich geringer sind als Deutschlands. Behauptung: "Es gibt schon Verteilungsquoten für Flüchtlinge in der EU." Faktencheck: Nein. Die EU hat seit einigen Jahren ein "gemeinsames europäisches Asylsystem", das unter anderem gemeinsame Mindeststandards für Asylverfahren und die Aufnahme von Flüchtlingen festlegt. Die neuen Regeln dieses so genannten Asylpakets gelten seit diesem und müssen jetzt konsequent umgesetzt werden. Die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylanträgen ist aber noch immer durch Dublin geregelt, wonach die Verantwortung in der Regel beim Einreisestaat liegt, in dem die Flüchtlinge dann auch über Jahre bleiben müssen. Es hat in den vergangenen Jahren wenig freiwillige Beispiele gegeben zur Verteilung von einem Land auf andere. Etwa aus Malta, das vor wenigen Jahren verhältnismäßig viele Flüchtlinge aufnehmen musste, von denen aber nur einige Hundert von anderen EU-Staaten aufgenommen wurden. Die EU braucht immer dringender eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen, die alle Mitgliedstaaten zu gleichen Teilen beteiligt. Ein solcher Verteilungsschlüssel könnte nicht nur Größen wie Bruttoinlandsprodukt, Bevölkerung, Fläche und Arbeitslosenquote einfließen lassen, sondern auch, bis zu einem gewissen Grad, das von den Flüchtlingen selbst gewünschte Zielland. Behauptung: "Wir brauchen mehr Grenzkontrollen." Faktencheck: Die EU darf keine Festung mit tödlichen Grenzen werden. Wer vor Krieg und Verfolgung flieht, lässt sich von Zäunen nicht aufhalten - oder wählt den Seeweg. Grenzkontrolleure können zudem nicht über den Anspruch eines Reisenden auf Asyl entscheiden. Wir wollen Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, Schutz bieten, und zwar in ganz Europa. Am besten schaffen wir beides, indem wir die bisherige Dublin-Verordnung außer Kraft setzen und stattdessen solidarische Regeln zur Registrierung und Verteilung von Flüchtlingen schaffen. Außerdem sollten die Anerkennungsverfahren für Menschen mit hoher Schutzwahrscheinlichkeit wie Syrer oder Eritreer deutlich vereinfacht werden. Um die Nutzung des Asylsystems durch Arbeitsmigranten zu begrenzen, brauchen wir klare legale Wege für Arbeitsmarktzuwanderung. Behauptung: "Die Schleuser sind das größte Problem." Faktencheck: Schleuser sind in der überwältigenden Mehrheit keine solidarischen Helfer. Meist bringen sie Flüchtlinge nur über die Grenze und überlassen sie dann ihrem Schicksal – kassieren dabei aber ab. Doch das ursächliche Problem sind die Gründe, welche die Menschen zur Flucht treiben. Gäbe es in den Ausgangsstaaten der Flucht keinen Krieg, Terror, keine Verfolgung und Verelendung, würde den Schleusern die Lebensgrundlage entzogen. Die Abschottung einiger Staaten sowie das Fehlen sicherer Fluchtwege und legaler Einreisemöglichkeiten machen die Flucht noch gefährlicher und die Schleuser rücksichtsloser. Alle Verantwortung auf die Schleuser zu schieben, ist also irreführend. Konservative nutzen die Forderung nach einer militärischen Bekämpfung der Schleuser, um von anderen Verantwortlichkeiten für die zunehmenden Flüchtlingsströme nach Europa abzulenken. Deshalb fordern wir ein echtes europäisches Wiederansiedlungs-Programm, mit einem gemeinsamen europäischen Verteilungsschlüssel, der die Flüchtlinge gleichmäßig auf alle Mitgliedstaaten verteilt. Darüber hinaus sollte der Rat die Richtlinie von 2001 für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms umsetzen, die infolge der Kosovo-Krise abgestimmt wurde. Nur durch legale und sichere Wege nach Europa können wir verhindern, dass Schutzbedürftige auf die Dienste von Schleuserbanden angewiesen sind und bei der Flucht ihr Leben aufs Spiel setzen.