07.03.2025Die Zeit der Weckrufe ist vorbei – jetzt müssen wir handelnFünf Maßnahmen für ein starkes Europa und eine starke GesellschaftDer folgende Text erschien am 7. März 2025 in der Frankfurter Rundschau als Gastbeitrag der S&D-Europaabgeordneten Dr. Tobias Cremer, MdEP (Deutschland), Raphael Glucksmann, MdEP (Frankreich), Sven Mikser, MdEP (Estland), Thijs Reuten, MdEP (Niederlande).Am 8. Juli 2024 richtete Generalinspekteur Carsten Breuer eine ernüchternde Warnung an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags: „Unter Berücksichtigung aller verfügbaren Informationen ist ein Angriff auf NATO-Territorium innerhalb der nächsten fünf bis acht Jahre möglich.“Gleichzeitig verdeutlichten sowohl das schockierende Verhalten von Präsident Trump gegenüber Präsident Selenskyj in Washington als auch die Rede von Vizepräsident Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz eines ganz klar: Wir können uns nicht länger darauf verlassen, dass die USA sicherheitspolitisch für Europa die Kastanien aus dem Feuer holen werden.Somit steht Europa heute vor der vielleicht größten militärischen Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg, und zum ersten Mal seit über 80 Jahren müssen wir uns dieser Herausforderung möglicherweise ohne die Gewissheit amerikanischer Sicherheitsgarantien stellen. Diese neue Realität erfordert eine grundlegende Neubewertung der politischen Prioritäten. Dabei ist unsere erste Pflicht, die physische, wirtschaftliche und soziale Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Wir wissen: Sicherheit ist nicht alles – aber ohne Sicherheit ist alles andere nichts.Verteidigungsausgaben dürfen deshalb nicht als Rückzug von sozialem Fortschritt betrachtet werden, sondern als Notwendigkeit, diesen Fortschritt zu schützen. Gleichzeitig sind gerade in einer Zeit der hybriden Kriegsführung Investitionen in den sozialen Zusammenhalt und gesellschaftliche Resilienz ein ebenso elementarer Aspekt von Sicherheit wie militärische Fähigkeiten.Als Sozialdemokraten unterstützen wir daher nachdrücklich die Aufstockung der Investitionen in Sicherheit und Verteidigung, um sicherzustellen, dass Europa verteidigungsfähig, abschreckungsfähig, und ja - im Zweifel auch kriegsfähig ist. Diese Ausgaben müssen jedoch in eine umfassendere Investitionsstrategie eingebettet sein, die nicht nur die militärischen Fähigkeiten, sondern auch die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und soziale Resilienz Europas stärkt. Die Menschen erwarten in dieser geopolitischen Zeitenwende zu Recht einen handlungsfähigen Staat und eine handlungsfähige EU. Um dies zu gewährleisten haben wir 5 Kernforderungen entwickelt.1. Stärkung der europäischen VerteidigungsfähigkeitenEuropa muss seine Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen und die Lücke zwischen Bedarf und Fähigkeiten schließen. Der alte NATO-Richtwert von 2 % des BIP wird zukünftig nicht mehr ausreichen. Mehrausgaben allein reichen jedoch nicht aus – wir müssen klüger investieren und gemeinsam beschaffen. Unsere fragmentierte Verteidigungsindustrie muss reformiert werden, um Integration, Innovation und Effizienz zu verbessern. Die militärische Mobilität muss verbessert und die industrielle Kapazität erweitert werden, um den Sicherheitsanforderungen gerecht zu werden.Darüber hinaus ist die Unterstützung der Ukraine für die Sicherheit Europas von entscheidender Bedeutung. Ein Sieg Russlands oder auch ein Trump’scher Scheinfrieden würde Autokraten ermutigen, die Stabilität Europas gefährden und die Kosten für die Abschreckung erhöhen. In der Ukraine wird aktuelll nicht nur über die Zukunft und Sicherheit der Ukraine entschieden sondern auch über die Zukunft und Sicherheit Europas. Wir sollten entsprechend handeln, indem wir die finanzielle, humanitäre und militärische Unterstützung erhöhen – einschließlich der Verwendung eingefrorener russischer Vermögenswerte. Gleichzeitig ist eine Beschleunigung des EU-Beitritts der Ukraine ein wichtiger Schritt um Putin klar zu machen, dass die Zukunft der Ukraine nicht im Schatten des Kremls liegt, sondern in Europa.2. Investitionen in Resilienz und gesellschaftlichen ZusammenhaltSicherheit ist nicht nur eine Frage militärischer Stärke. Soziale Sicherheit, wirtschaftliche Fairness und gesellschaftlcher Zusammenhalt sind die Grundlage einer resilienten Gesellschaft und die größte Quelle europäischer “Soft Power”. Höhere Verteidigungsausgaben müssen deshalb mit Investitionen in Infrastruktur, Wettbewerbsfähigkeit, gesellschaftliche Resilienz einhergehen – nicht zuletzt, um unsere Gesellschaften reslient gegen ausländische Einflussnahme zu machen, die soziale Spaltungen ausnutzen um Desinformation zu verbreiten und Wahlen zu manipulieren. Auch die Energieunabhängigkeit und grüne Transition ist von entscheidender sicherheitspolitischer Bedeutung. Die Abhängigkeit Europas von russischen fossilen Brennstoffen hat Putins Kriegsmaschinerie finanziert. Eine bloße Diversifizierung der Lieferanten reicht jedoch nicht aus – wir müssen in erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Infrastruktursicherheit investieren. Der Green Deal ist nicht nur Umweltpolitik, sondern auch Sicherheitspolitik.3. Finanzielle Mittel für Handlungsfähigkeit sichernDie Finanzierung der europäischen Verteidigung kann nicht allein aus den bestehenden Haushalten erfolgen. Die Ausnahme von Verteidigungsausgaben über 2 % des BIP von den Maastricht-Kriterien und auch die die Aufnahme gemeinsamer Verteidigungsanleihen (“Defensebonds”) – ähnlich dem EU-Aufbauplan nach der Pandemie – könnten zur Finanzierung der sicherheitspolitischen Transition beitragen. Die Schaffung von EU-Eigenmitteln beispielsweise durch eine Windfall-Profit-Steuern oder einer auf Finanztransaktionen basierenden „Friedenssteuer“ würden ebenfalls dazu beitragen, dass gerade die die am meisten von der europäischen Stabilität profitieren auch ihren gerechten Beitrag zu deren Aufrechterhaltung leisten.Die finanzielle Last kann jedoch nicht allein durch Steuergelder getragen werden. Auch privates Kapital muss mobilisiert werden. Eine Erweiterung des Mandats der Europäischen Investitionsbank zur Unterstützung der Verteidigungsindustrie kann wichtige Finanzmittel freisetzen, insbesondere für Start-ups und KMU. Die Aufnahme des Aspekts „Resilienz“ in die EU-Investitionstaxonomie würde die Beiträge des Privatsektors weiter fördern.4. Aufbau einer souveränen europäischen VerteidigungsindustrieUm die Mittel zum Schutz unserer Sicherheit bereitzustellen, muss die europäische Verteidigungsindustrie von einem Produktionsmodell mit geringen Stückzahlen und hohen Margen zu einem Modell übergehen, bei dem Größe, Geschwindigkeit und Effizienz im Vordergrund stehen. Dies erfordert eine langfristige Planung und klare politische Verpflichtungen, um Sicherheit und Investitionen für die industrielle Skalierung zu gewährleisten.Transparenz und hohe soziale Standadrds sind als Anforderungen an die Verteidigungsindustrie unerlässlich. Investitionen dürfen keine Blankoschecks für Auftragnehmer sein; sie müssen den europäischen Bürgern zugutekommen und gute Arbeitsplätze schaffen.5. Europa als Kraft für Frieden und globale SicherheitAngesichts des amerikanischen Rückzugs aus der globalen Führungsrolle, ist die EU umso mehr als Kraft für Frieden, Diplomatie und Völkerrecht gefragt. Dazu gehört, die EU-Erweiterung zu beschleunigen und den Beitrittskandidaten einen glaubwürdigen Weg zur Mitgliedschaft zu ebnen. Über ihre direkte Nachbarschaft hinaus muss die EU zudem die Sicherheitspartnerschaften mit gleichgesinnten Nationen vertiefen. So sollten wir etwa die Beziehungen zu Verbündeten wie Großbritannien, Australien, Neuseeland und Südkorea stärken und gleichzeitig eine engere Zusammenarbeit mit Demokratien im globalen Süden fördern.Um auf globalen Bühne handlungsfähig zu sein, muss die innere Lähmung der EU überwunden werden. Wir dürfen uns nicht länger von russlandfreundlichen Regierungen innerhalb der EU in Geiselhaft nehmen lassen. Die Entscheidungsfindung in der Außen- und Sicherheitspolitik muss, wo möglich, auf qualifizierte Mehrheitsentscheidungen umgestellt werden. Falls nötig, sollten auch neue “Koalitionen der Willigen” – ggf. Auch unter Einbeziehung vin Nicht-EU-Partnern wie Großbritannien, Norwegen und der Türkei und der NATO – in Erwägung gezogen werden.Jedoch muss sich auch die NATO an die neuen geopolitischen Gegebenheiten anpassen. Starke transatlantische Beziehungen bleiben in unserem höchsten Eigeninteresse. Gleichzeitig muss Europa aber in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen – unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt. Der europäische Pfeiler der NATO muss daher gestärkt werden – auch um mehr Lastengerechtigkeit zu schaffen. Und zwar sowohl bezüglich militaräischer Fähigkeiten als auch in der Kooperation zwischen EU und NATO. So besitzt die EU beispielsweise Fähigkeiten in den Bereichen industrielle Koordination, Standardsetzung und Finanzierung von Rüstungsausgaben die komplämentär zur NATO genutzt werden sollten. Eine strukturierte Partnerschaft zwischen EU und NATO ist somit unerlässlich, um Interoperabilität zu gewährleisten und die Abschreckung zu maximieren.Jetzt ist die Zeit zum HandelnIn dieser doppelten Zeitenwende zwischen russischer Aggression und amerikanischem Rückzugs, bleibt Europa keine andere Wahl als mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit und die Zukunft der regelbasierten internationalen Ordnung zu übernehmen. Um erfolgreich zu sein, muss Europa entschlossen, zuverlässig und geschlossen handeln und gleichzeitig sein einzigartiges soziales und wirtschaftliches Modell bewahren. Die EU verfügt hierbei über ein enormes Potenzial, eine friedliche, wohlhabende und fortschrittliche Sicherheitsordnung zu gestalten. Dieses Potenzial gilt es jetzt zu heben. Die Zeit der Weckrufe ist vorbei – jetzt müssen wir handeln. Tobias Cremer Nordrhein-Westfalen Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten Ausschuss für Sicherheit und Verteidigungtobias.cremer@europarl.europa.eu
Tobias Cremer Nordrhein-Westfalen Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten Ausschuss für Sicherheit und Verteidigungtobias.cremer@europarl.europa.eu